Die Symbiose von Kunst und Nationalbewegung:
Der Mythos vom «Nationalkomponisten» Bedrich Smetana
Christopher Storck
In: BohZ 35 (1994) S. 253-267.
(Manuskript ohne Anmerkungen und diakritische Zeichen)
Bedrich Smetana (1824-1884) nimmt bis heute eine Sonderstellung in der musikalischen
Theorie und Praxis der tschechischen Gesellschaft ein. Er selbst hat sich gegen Ende seines
Lebens den Ehrentitel «Nationalkomponist» zugelegt, und seine Anhänger haben ihn
endgültig dazu stilisiert. Sie haben nach dem Tod des Komponisten mit dem Aufbau eines
nationalen Kults nicht nur um sein Werk, sondern auch um seine Person begonnen. Obwohl
sich neben den acht Opern Smetanas 1884 bereits 37 Stücke anderer tschechischer
Komponisten im Repertoire des Nationaltheaters befanden, wurden die Werke des
«Begründers der tschechischen Nationalmusik» fast so häufig gespielt, wie die aller übrigen
nationalen Tonsetzer zusammen; noch 1948 behauptete Smetana einen Anteil von rund einem
Viertel am Opernrepertoire des Nationaltheaters.
Einen ähnlichen Stellenwert gewannen seine Werke nach 1884 auf den Bühnen der nun auch
in anderen Städten Böhmens und Mährens entstehenden tschechischen Opernhäuser.
Smetanas Musik spielte so eine wichtige Rolle beim Hinauswachsen der tschechischen
Hochkultur über Prag hinaus, beim Zusammenwachsen der Nation, wofür erst in den
achtziger Jahren die sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen vorlagen. 1892
gelang Smetana mit dem sensationellen Erfolg der Oper Die Verkaufte Braut auf der Wiener
Theaterausstellung schließlich der internationale Durchbruch.
Der wohl entscheidende Faktor dafür, daß Smetana als Komponist eine solche
Ausnahmestellung in der tschechischen Gesellschaft erreichen konnte, war die
Verschmelzung von Politik und Kultur im Rahmen der Nationalbewegung. Wie bei den
meisten der «verspäteten» europäischen Nationen war auch der 1860 begonnene Aufbau der
tschechischen Gesellschaft zunächst eine vornehmlich sprachlich-kulturelle Bewegung.
Angesichts der weitgehenden politischen Handlungsunfähigkeit der Nationalbewegung war
bis in die achtziger Jahre hinein allein die Kunst in der Lage, bedeutende nationale Symbole
zur Verfügung zu stellen. Ereignisse wie die Grundsteinlegung für das Nationaltheater, die
Einweihung von dessen erstem und zweitem Gebäude, die Uraufführungen von Smetanas
Werken Die Verkaufte Braut, Libuse und Mein Vaterland stellen wichtige
identifikationsstiftende Orientierungspunkte dar; denn die tschechischen Politiker beteiligten
sich bis 1879 wegen der ablehnenden Haltung Wiens gegenüber einem Ausgleich mit den
Ländern der böhmischen Krone weder an der Reichs- noch an der Landespolitik. Solange das
so war, konnte die sich emanzipierende tschechische Gesellschaft die beanspruchte
Gleichrangigkeit mit den etablierten europäischen Nationen im allgemeinen und den in der
Donaumonarchie dominierenden Deutschen im besonderen nur durch künstlerische und
kulturelle Leistungen demonstrieren.
Smetana war nicht nur der erste Komponist von internationaler Bedeutung, den die junge
tschechische Gesellschaft hervorbrachte; die Nationalbewegung konnte Smetana auch
besonders deshalb gut instrumentalisieren, weil er sich für sie seit 1861 bewußt engagierte.
Seine Kompositionen enthalten - viel stärker als beispielsweise das Oeuvre Dvoraks -
zusätzlich zu der Bedeutung, die sie als Kunstwerke besitzen, einen nationalen Bestandteil,
den das tschechische Publikum auch stets als Botschaft verstanden hat und dessen
Aussagekraft sich in Krisensituationen immer wieder verstärkte.
Der Aufstieg Smetanas zu einem zentralen Symbol für den Gleichberechtigungsanspruch der
tschechischen Nation förderte schon Ende der achtziger Jahre die Legendenbildung um seine
Person und sein Wirken. Wichtige Voraussetzungen dafür waren die Vielfältigkeit seines
Schaffens - er deckte nicht nur mit seinen Kompositionen alle Genres ab, sondern wirkte auch
als Dirigent, Opernchef, Klaviersolist, Konzertveranstalter und Musikkritiker. Von nicht
geringer Bedeutung waren aber auch die tragischen Elemente in seinem Leben: Exil, Tod der
geliebten Frau und Kinder, gegen ihn geführte Hetzkampagnen, Ertaubung und einsamer Tod
im Irrenhaus. Hauptmotor des Prozesses, der Smetana als «Nationalkomponist» fest im
nationalen Bewußtsein verankerte, war Otakar Hostinsky, einer der Begründer der
tschechischen Ästhetik. Er entwickelte und etablierte eine nationale Musikgeschichte, in der
das Schaffen Smetanas als Kulminationspunkt dargestellt wird. Er hat nicht nur Smetanas
musikalische Ideen und seine daran anknüpfenden eigenen Vorstellungen propagiert, sondern
zugleich die Richtung vorgegeben, in der sich die tschechische Smetana-Forschung
anschließend entwickelt hat. Zdenek Nejedly, der bedeutendste seiner Schüler, ist bei der
Glorifizierung Smetanas dann soweit gegangen, den Komponisten als musikalische
Inkarnation des tschechischen Geistes zu feiern - als die Verkörperung der tschechischen
Entwicklung hin zur modernen Nation und als eine Art musikalischen Heiland. Diese
Sehweise ist dann in der Zwischenkriegszeit zu einem Dogma erhoben worden, das jeder
berücksichtigen mußte, der erfolgreich über Smetana schreiben wollte.
Die Möglichkeit, daß Smetanas Handeln gar nicht primär von den ihm unterstellten hehren
nationalen Zielen bestimmt war, sondern vielmehr von ganz praktischen Erwägungen abhing,
ist dagegen nie in Betracht gezogen worden. Die Häufigkeit der Bemerkungen, die in seinen
Tagebüchern und Kalendern der eigenen finanziellen, beruflichen oder gesellschaftlichen
Situation gelten, läßt jedoch darauf schließen, daß diese existenziellen Fragen sein Denken
und Handeln entscheidend geprägt haben. Smetana strebte eine berufliche Position an, in der
er sich ganz seinem künstlerischen Vorhaben widmen konnte, wobei sich seine Vorstellungen
von einer solchen Position am Musikleben der deutschen Metropolen orientierten. Nachdem
seine in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre unternommenen Versuche, eine Karriere als
Dirigent oder Konzertpianist im Ausland zu starten, gescheitert waren, sah Smetana die
einzige Chance, sein Lebensziel zu erreichen, in der Entwicklung eines modernen
Musiklebens in Prag. Dies war zu der damaligen Zeit aber nur von der tschechischen
Gesellschaft zu erwarten - die deutschböhmische Kultur orientierte sich längst nach Wien -,
so daß es für Smetana nahelag, sich an dem Vorhaben zu beteiligen, Prag als Zentrum der
tschechischen Kultur auszubauen.
Zwar läßt sich sein Handeln seit 1860 nicht allein auf diese pragmatischen Beweggründe
zurückführen - dagegen sprechen sein früh ausgeprägtes Nationalbewußtsein, seine
Anteilnahme an der tschechischen Politik und das nationale Pathos, das in einigen seiner
Werke zum Ausdruck kommt - aber diese persönlichen Motive waren doch wichtig für sein
Vorgehen. Von dieser gesellschaftlichen Situation ist Smetana auch als Komponist
entscheidend geprägt worden. Seine künstlerische Entwicklung und sein beruflicher
Werdegang sind auf jeden Fall eng verknüpft mit dem Entwicklungsprozeß der tschechischen
Nation, ohne den weder die Karriere als Kapellmeister und Opernchef, noch der Aufstieg zu
einem weltberühmten Komponisten möglich gewesen wären.
Smetana hatte angesichts der provinziellen Enge im kulturellen Leben der böhmischen
Landeshauptstadt keine Möglichkeit gesehen, sich als Berufsmusiker zu etablieren, bevor das
Oktoberdiplom 1860 die Voraussetzungen für den Aufbau einer eigenständigen tschechischen
Gesellschaft schuf. Die für ganz Österreich proklamierten Liberalisierungen lösten bei den
Tschechen eine gewaltige Aufbruchsstimmung aus. Wie Pilze schossen die verschiedensten
kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Vereinigungen aus dem Boden. Von Prag aus
wurde die Institutionalisierung einer modernen tschechischen Nation mit so großer Energie
betrieben, daß bereits Anfang der neunziger Jahre die strukturellen Voraussetzungen für die
Existenz einer eigenständigen Industriegesellschaft geschaffen waren.
Zu den damals begonnenen Projekten gehörte auch der Bau eines tschechischen Theaters. Als
Smetana erfuhr, daß auf dieser Bühne auch Musiktheater gespielt werden sollte, sah er seine
Chance. Er kehrte 1861 nach Prag zurück und nahm unverzüglich den Kampf um das
Kapellmeisteramt am Interimstheater auf, das seinem Inhaber die zentrale Position im
entstehenden nationalen Musikleben garantierte.
Die biographischen Beschreibungen der fünf Jahre, die zwischen Smetanas Rückkehr nach
Prag und seiner Berufung zum Kapellmeister vergingen, erschöpfen sich in der Empörung
über die Mißachtung des Genies durch das Establishment, im Beweis der mangelnden
Kompetenz von Kulturfunktionären und Konkurrenten sowie in Darstellungen der
Leistungen, die Smetana bis 1866 erbrachte. Berücksichtigt man jedoch, daß die geschmähten
Komponisten und Musiker keineswegs - wie Hostinsky und seine Schüler das dargestellt
haben - ausnahmslos Dilettanten waren, daß Smetana sich bis 1861 durch nichts einen Namen
gemacht hatte, und begreift die Unternehmungen des Rückkehrers als Teile eines
Gesamtplans zur Eroberung des tschechischen Musiklebens, dann ergibt sich ein ganz neues
Bild.
Aus diesem Blickwinkel heraus erweist sich Smetana geradezu als Prototyp des um sozialen
Aufstieg bemühten «Bildungskleinbürgers», wie ihn Miroslav Hroch als Hauptträger der
Agitations- und Massenphase der «verspäteten» europäischen Nationalbewegungen
herausgestellt hat. Danach ist es für die nationalen Vorkämpfer typisch, daß sie die von ihnen
angestrebten gesellschaftlichen Positionen besetzt finden; in der Regel von Angehörigen einer
anderen, der politisch dominierenden Nationalität. In dieser Situation beginnt die in ihrem
sozialen Aufstieg gehemmte Intelligenz mit dem Aufbau einer alternativen Gesellschaft um
sich herum. Sie plant, propagiert und verwirklicht mit der neuen Nation eine soziale
Großgruppe, in der sie ihre Zielpositionen möglichst schon in der Aufbauphase besetzen
kann. Damit soll die emotionale Komponente des Nationalbewußtseins nicht geleugnet
werden, doch ist sie nur ein - wenn auch für den Erfolg der Nationalbewegung
unverzichtbares - sekundäres Phänomen.
Smetana fand 1861 kein institutionalisiertes Musikleben in Prag vor. Einerseits scheint das
Interesse an Konzerten und Opernaufführungen nicht besonders groß gewesen zu sein,
andererseits fuhren jene Prager, denen der Besuch musikalischer Veranstaltungen ein
Bedürfnis war, lieber gleich nach Wien, Dresden oder München. Der Aufbau eines
tschechischen Musiklebens in der böhmischen Landeshauptstadt war vor allem ein Politikum.
Das sollte sich später zeigen, als eine heftige Debatte darüber ausbrach, wie die spezifisch
tschechische Musik eigentlich beschaffen sein sollte. Doch zunächst ging es nur darum,
überhaupt einen Opern- und Konzertbetrieb zu etablieren - und zwar einen größeren und
besseren, als ihn das offizielle, das deutsche Prag unterhielt.
Smetana orientierte sich jedoch nicht an der örtlichen deutschen Konkurrenz, sondern am
Niveau der bedeutenden Opernhäuser und Konzertsäle, die er in den deutschen
Kulturmetropolen besucht hatte. Die zu Beginn der sechziger Jahre führenden Kulturpolitiker
um Rieger und Palacky lehnten seine hochfliegenden Pläne aber ab. Sie wußten, daß der
jungen tschechischen Gesellschaft noch die finanziellen Mittel und die strukturellen
Voraussetzungen fehlten, um einen Kulturbetrieb von europäischem Niveau aufzubauen.
Ihrer Ansicht nach konnten die Tschechen froh sein, daß sie mit dem 1862 eröffneten
Interimstheater überhaupt erstmals eine eigene Bühne mit regelmäßigem Spielbetrieb
besaßen. Für einen namenlosen Störenfried mit überzogenen Vorstellungen war da kein Platz.
Doch der unbequeme Neuerer fand Verbündete. Er schloß sich einem Kreis junger
Schriftsteller um Jan Neruda und Vitezslav Halek an, zu der kurz zuvor auch Karel
Sladkovsky und andere Bekannte Smetanas aus den vierziger Jahren gestoßen waren. Diese
Keimzelle der späteren «Jungtschechen» war zwar 1861 politisch noch völlig bedeutungslos,
dies sollte sich aber im Laufe der folgenden vier Jahre grundlegend ändern: Neben dem schon
seit Ende 1860 bestehenden Hlahol, dem Nukleus der tschechischen
Gesangsvereinsbewegung, rief sie 1862 die Turnerschaftsbewegung Sokol und Anfang 1863
die Künstlerorganisation Umelecka beseda ins Leben. Nachdem die Jungtschechen im selben
Jahr auch die führende tschechische Tageszeitung Narodni listy und Anfang 1865 das
Komitee für den Bau des Nationaltheaters sowie im folgenden Jahr die Betreibergesellschaft
des Interimstheaters unter ihre Kontrolle gebracht hatten, besaßen sie entscheidenden Einfluß
auf die nationale Kulturpolitik und die Organisation des tschechischen Kulturlebens.
Mit Ausnahme des Sokol bedeutete jede dieser Gründungen oder Übernahmen nationaler
Organisationen durch die Jungtschechen für Smetana eine wichtige Etappe auf seinem Weg
an die Spitze der tschechischen Oper. Als künstlerischer Leiter des Hlahol bewies er seine
Fähigkeiten als Dirigent. Der mitgliederstarke Gesangsverein wurde genauso zu seiner
Hausmacht wie die Umelecka beseda, an deren Gründung und Aufbau Smetana
entscheidenden Anteil hatte.
In den Jahren 1864/65 war Smetana Musikreferent der Narodni listy. Schon 1862 hatte er sich
mit einer schonungslosen Analyse des Prager Musiklebens, verbunden mit einem Programm
für den Aufbau eines modernen Konzertwesens, in der Presse zu Wort gemeldet. Daran
knüpfte eine 1864 in den Narodni listy erschienene Artikelserie an. Smetana unterzog darin
Spielplangestaltung, Inszenierungen, Probenarbeit, Ensemblepolitik und künstlerische
Leitung der Oper einer harschen Generalkritik und stellte den beschriebenen Zuständen
erneut ein detailliertes Programm zur Schaffung eines modernen Opern- und Konzertbetriebs
in Prag vor. Dabei machte er sich auch zum Sprecher der jungtschechischen Kritik an der
räumlichen Enge des Interimstheaters und verlangte die Forcierung des Baus eines
repräsentativen Theatergebäudes.
Auf diese Weise wurde Smetanas Kampf um das Kapellmeisteramt zu einem Bestandteil des
Ringens der Jungtschechen um die Führung in der Nationalbewegung. Smetana tat auch sonst
viel, um sich ins Gespräch zu bringen: Er veranstaltete eine Reihe mit
Abonnementskonzerten und trat mit wachsendem Erfolg als Dirigent und Pianist auf. Im
Frühjahr 1866 gewann er mit seiner in Prag außerordentlich erfolgreichen Erstlingsoper Die
Brandenburger in Böhmen den Harrach-Preis für die beste tschechische Oper. Entscheidend
für seine Berufung an das Interimstheater am 15. September 1866 war jedoch die Übernahme
der Leitung des Interimstheaters durch eine Betreibergesellschaft, in der erstmals die
Jungtschechen die Mehrheit hatten.
Nur wenn man sich des politischen Charakters dieser Entscheidung bewußt ist, wird das
weitere Schicksal Smetanas bis hin zu seinem Aufstieg zum «Nationalkomponisten»
verständlich. Bis zum Ende der achtziger Jahre, in abgeschwächtem Maße sogar bis zur
Staatsgründung 1918, war jeder Vorgang im tschechischen Gesellschaftsleben immer auch
ein politisches Ereignis, war jede kulturelle Veranstaltung eine nationale Demonstration. Wie
sehr die Nationalbewegung Politik und Kultur miteinander verzahnte, zeigt die wütende
Debatte, die zu Beginn der siebziger Jahre darüber entbrannte, ob und welche spezifischen
Merkmale für die tschechische Musik verbindlich sein sollten - ein Streit, der
phasenverschoben in allen Kunstgattungen ausgefochten wurde. Neben persönlichem
Konkurrenzkampf ging es dabei vor allem darum, eine Balance zu finden zwischen den
konträren kulturpolitischen Stoßrichtungen des weltoffenen Kosmopolitismus und der sich
gegen Fremdeinflüsse abschottende Nationalkunst - zwei Extrempositionen, die sich nicht auf
die einfache Formel von Progressivität und Fortschrittsfeindlichkeit reduzieren lassen.
Vielmehr stellte das Spannungsfeld, das sich zwischen ihnen aufbaute, das dynamische
Element der tschechischen Kunstentwicklung im 19. Jahrhundert dar.
Dies war kein spezifisch tschechisches Phänomen: Die Nationalisierung der Musik war
typisch für jene Nationen, die sich in Europa zwischen 1789 und 1920 herausgebildet haben.
Eine ähnliche nationale Funktion wie Smetana bei den Tschechen hatten Verdi (Italien),
Grieg (Norwegen) Moniuszko und Chopin (Polen), Gade und Nielsen (Dänemark), Glinka
(Rußland), Wagner (Deutschland) und Bartok (Ungarn). Sogar die US-Amerikaner strebten
Ende des 19. Jahrhunderts die Herstellung einer eigenen «Nationalmusik» an, zu welchem
Zweck sie Antonin Dvorak die Leitung des National Conservatory in New York übertrugen.
Die Vereinnahmung durch die Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts wirkte sich auf die
Kunst dieser Zeit sowohl positiv als auch negativ aus. Sie profitierte davon, daß die
«verspäteten Nationen» ihren Anspruch auf Eigenständigkeit vor allem durch kulturelle
Leistungen zu untermauern suchten. Dadurch wurden neue Kräfte freigesetzt, größere
Gestaltungsräume erschlossen und zusätzliche finanzielle Mittel bereitgestellt, die in dieser
Zeit sonst wohl kaum für künstlerische Zwecke hätten genutzt werden können. Die Symbiose
mit den Nationalbewegungen engte aber gleichzeitig den kreativen Spielraum der Kunst ein,
da viele Kulturpolitiker die Künstler direkt für ihre nationalpolitischen Ziele einspannen,
ihnen also die Form und den Inhalt ihres Schaffens vorschreiben wollten.
Bedeutende Kunst resultiert seit der Renaissance in der Regel aber nicht aus vorgegebenen
From: "Tomas Pecina"
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Subject: Smetana
Date: Sat, 7 Nov 1998 17:33:18 +0100
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Programmen. Vielmehr entspringt sie der schöpferischen Kraft einzelner Persönlichkeiten,
die ihre Werke nicht selten im Widerspruch zu den gegebenen Tatsachen und
vorgeschriebenen Verhaltensweisen entwickeln, weil ihnen daran gelegen ist, feststehende
Wirklichkeitsbilder immer wieder in lebendigen Formen aufzulösen und neu zu gestalten, um
Ursprüngliches im Gegenwärtigen, Selbst-Wahr-Genommenes im Allgemeinen zum
Ausdruck zu bringen. Politische Ziele können dabei durchaus zu Antriebskräften oder
Impulsgebern künstlerischer Arbeit werden, wenn sie mit persönlichen Erfahrungen im
Einklang stehen; als bloße formale oder inhaltliche Forderungen vorgetragen, berühren sie
jedoch schon deshalb nie den Gestaltungsgrund wirklicher Kunst, weil hier das Was (der
Inhalt) und das Wie (die Form) so untrennbar miteinander verknüpft sind, daß erst infolge des
Werkprozesses der Inhalt durch die Form und die Form durch den Inhalt Konturen gewinnen.
Deshalb ist es geradezu abwegig, wie dies in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - unter
extremen Bedingungen gerade aber auch in unserem Jahrhundert - geschehen ist, von den
Künstlern Werke mit nationalem Charakter einzufordern und die Qualität ihrer Arbeiten
daran zu messen, inwieweit sie dieser Forderung nachgekommen sind oder nicht.
Wie jede andere Kunstgattung kann auch die Musik ihrem Wesen nach nicht «national» sein.
Sie vermag lediglich nebenher zur Entwicklung und Etablierung einer nationalen Gesellschaft
beizutragen. Da der Besitz einer eigenen Musikkultur eines der Elemente war, mit denen die
Tschechen ihren Anspruch auf Gleichstellung mit den bereits etablierten Nationen zu
bekräftigen suchten, betätigten sich die tschechischen Komponisten automatisch als
«Botschafter» ihrer Nation, wenn sie Werke von internationalem Rang schufen, die auch im
nichtslavischen Ausland Anerkennung fanden. Die übrigen europäischen Gesellschaften
wußten Anfang der sechziger Jahre fast gar nichts über die Tschechen; oft wurden diese für
Deutsche gehalten. Durch die Vermittlung der österreichischen Publizistik sahen die
Westeuropäer sie als den kümmerlichen Rest eines untergegangenen Volkes an, das keine
Existenzberechtigung mehr hatte. Wenn die Tschechen überhaupt zur Kenntnis genommen
wurden, sah man herab auf ihre ländlichen Bräuche, die man mit primitiver Lebensform
gleichsetzte, und ihre nicht an die Moderne angepaßte Sprache, die angeblich «für eine höhere
Entwicklung ungeeignet» war. So war die Ansicht weit verbreitet, die Germanisierung sei das
Beste, was den Tschechen passieren könne. Vor diesem Hintergrund müssen die
tschechischen Anstrengungen, die kulturelle Gleichwertigkeit ihrer Nation zu demonstrieren,
gesehen werden. Gelungen ist das bis 1918 nur den Kompositionen von Smetana und Dvorak,
die seit 1892 mit wachsendem Erfolg im Ausland aufgeführt wurden.
In den sechziger und siebziger Jahren wurde die Hauptaufgabe des tschechischen
Musiklebens darin gesehen, einen Beitrag zur inneren Konsolidierung der Nation und zu ihrer
Abgrenzung nach außen zu leisten. Infolge der politischen Ohnmacht der Nation fiel die
Aufgabe, den Emanzipationsprozeß voranzutreiben, fast ausschließlich der Kultur zu. Das
geschah in erster Linie durch den Ausbau Prags zur tschechischen Kulturhauptstadt, wobei
regelmäßige Konzert- und Opernaufführungen eine entscheidende Rolle spielten.
Die Musik förderte die Entwicklung hin zur nationalen Identität vor allem durch den Aufbau
eines breiten Repertoires an tschechischen Singspielen und Chören. Die Instrumentalmusik
stand bis zur Uraufführung von Smetanas Mein Vaterland im Jahre 1882 ganz im Schatten
der Vokalmusik, was vor allem daran lag, daß die «sprachlosen» Musikformen nicht ohne
weiteres für sich in Anspruch nehmen konnten, nationale Kunstwerke zu sein. Die
Kulturpolitiker hatten deshalb an Opern und Chören das größte Interesse und gaben hier den
Komponisten drei Muster vor: die große historische Oper, das volkstümliche Singspiel und
den Männerchor. Um die Tonkünstler stärker zu motivieren, Werke dieser Art zu schaffen,
setzte Graf Jan Harrach Anfang 1861 zwei Preise in Höhe von je 600 Gulden für die
Komposition der besten historischen bzw. volkstümlichen (prostonarodni) Oper aus.
Der historischen Oper wurde die Aufgabe zugeteilt, Ereignisse aus der von den Tschechen
vereinnahmten Geschichte des Königreiches Böhmen darzustellen, um auf diese Weise zur
Entwicklung der nationalen Identität beizutragen. Von den zweiundvierzig Opern mit
tschechischen Libretti, die zwischen 1862 und 1884 in Prag zur Aufführung gelangten,
behandeln aber nur neun ein Thema aus der böhmischen Geschichte oder Mythologie. Da
aber die Qualität und der Erfolg dieser Werke insgesamt nur gering waren, haben sie zur
Entwicklung und Etablierung der Nationalgeschichte kaum etwas beigetragen.
Dagegen entwickelte sich die volkstümliche Oper zum bevorzugten Genre des tschechischen
Musiktheaters, wobei Smetanas Verkaufte Braut zum Prototyp dieser Kunstgattung wurde. Im
Sog ihres Erfolges - sie erlebte 1882 bereits ihre hundertste und 1927 die tausendste Prager
Aufführung - entstanden viele Werke von ähnlichem Zuschnitt. Der Aufstieg dieses Werks
zum Leitbild für die tschechische Opernkomposition hat das Übergreifen der
Auseinandersetzungen über das Wesen der nationalen Kunst von der Literatur auf die Musik
begünstigt.
Die Dominanz des volkstümlichen Elements in der Kunst war von Anfang an eine der beiden
heiß umstrittenen Grundpositionen innerhalb der kulturpolitischen Richtungskämpfe, die
bereits 1836 nach dem Erscheinen von Karel H. Machas Gedichtband Maj aufgeflammt,
infolge der Revolution von 1848 zunächst aber wieder in den Hintergrund getreten waren.
Seitdem schwelte dieser Meinungsstreit in der tschechischen Gesellschaft, bis er Ende der
sechziger Jahre erneut ausbrach und nun in der Presse mit großer Heftigkeit ausgetragen
wurde. Erst in den achtziger Jahren konnten sich immer mehr die Befürworter einer
weltoffenen Kunstauffassung durchsetzen. In dem Maße, wie sich die tschechische
Gesellschaft wirtschaftlich, sozial und politisch konsolidierte, fand sie zunehmend zu einer
Selbstverständlichkeit, die es ihr ermöglichte, sich auch auf kulturellem Gebiet für die
internationalen Entwicklungen zu öffnen. Ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg war die
Veröffentlichung des Manifestes der Tschechischen Moderne im Jahre 1895.
Der Streit über die Gestaltungsgrundlagen der tschechischen Musik war Teil dieser
allgemeinen Auseinandersetzung. Die «Isolationisten» wollten den besonderen Charakter der
tschechischen Musik stärken, um sie vor «Überfremdung» zu schützen; Einflüsse von außen
hielten sie nur dann für zulässig, wenn sie aus einer anderen slavischen Kultur stammten. Ihre
Gegner, für die es nur eine einzige «Weltkunst» gab, verfolgten stattdessen das Ziel, die
tschechische Musik dem westeuropäischen Niveau anzupassen. Das war aber nur möglich,
wenn sich die Komponisten gegenüber allen wichtigen Neuerungen im Musikleben offen
zeigten. Das brachte ihnen seitens der «Nationalpuristen» den Vorwurf ein, nach einer
«kosmopolitischen» Kunst zu streben und die Nation in ihrer Entwicklung hin zur
Eigenständigkeit zu behindern. Die Vertreter des Modells einer offenen Kultur wollten aber
gerade umgekehrt durch die Produktion von Kunstwerken internationalen Ranges zeigen, daß
die Tschechen in dieser Hinsicht ein gleichwertiges Mitglied in der Gemeinschaft der
europäischen Kulturnationen wären. Die konsequente Abschottung des Musiklebens hätte
dagegen nur zu einem abgestandenen Provinzialismus und zur Bestätigung des weit
verbreiteten Vorurteils geführt, daß die Tschechen zu herausragenden Kunstleistungen nicht
fähig seien.
Die Vorstellung, daß die Tschechen ohne jeglichen Einfluß von außen eine nur ihrem Wesen
entsprechende Hochkultur entwickeln müßten, hatte ihre Wurzeln im Denken Johann
Gottfried Herders, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts davon ausgegangen war,
alle Menschen, die über eine gemeinsame Muttersprache verfügten, seien auch Teil desselben
Volkes. Jede dieser Gemeinschaften hatte seiner Meinung nach einen Anspruch darauf, sich in
einem eigenen Staatswesen, dem Nationalstaat, frei entfalten zu können. Denn für Herder
besaß jedes Volk einmalige Voraussetzungen für eine eigenständige Entwicklung. Dazu
gehörten neben der Sprache auch die unterschiedlichen geographischen, klimatischen,
genetischen und historischen Gegebenheiten. Der aus all diesen Faktoren gemeinsam
bestehende «Code» sollte schließlich bestimmend dafür sein, welchen spezifischen
historischen Auftrag eine Nation zu erfüllen hatte. Der Menschheitsgeschichte lag nach
Herders Ansicht ein göttlicher Plan zugrunde, zu dessen Verwirklichung jedes Volk durch
seine nationale Eigenart einen Beitrag zu leisten hatte. Dadurch blieb sein Eigenwert
unabhängig von der erreichten kulturellen Entwicklungsstufe, weil diese jetzt nur den
zeitlichen Abstand bis zum Eintritt jener Phase verdeutlichte, in der es selbst dazu in der Lage
sein würde, gestaltend in den Geschichtsprozeß einzugreifen. Das Bewußtsein, eine
historische Mission zu besitzen, die von keiner anderen sprachlich-kulturellen Gemeinschaft
übernommen werden konnte, erhöhte das Selbstwertgefühl der Ethnien, die noch um ihre
Anerkennung als Nation kämpfen mußten. Das galt besonders für die slavischen Völker,
denen, wie Herder in seinem «Slavenkapitel» erläutert hatte, die Zukunft gehören werde, weil
seiner Meinung nach die europäischen Nationen, die bislang eine führende Rolle gespielt
hatten, schon bald von der Bühne abtreten würden.
Diese Ideen haben die «Erwecker» - und hier vor allem Dobrovsky, Kollar und Safarik - den
Tschechen vermittelt. Von Palacky und Havlicek ist daraus dann eine Art Naturrecht auf
staatliche Selbständigkeit für ihre Nation konstruiert worden. Zur Durchsetzung dieses
Anspruchs griff die tschechische Politik zwar bis zur Jahrhundertwende hauptsächlich auf
den Staatsrechtsgedanken zurück, der Inhalt des tschechischen Nationalbewußtseins war aber
in viel stärkerem Maße von den Vorstellungen Herders geprägt. Das wird nicht zuletzt durch
den Aufwand deutlich, mit dem die Erforschung der sprachlich-kulturellen Besonderheiten
und deren Propagierung im Rahmen des Nationsbildungsprozesses betrieben wurden.
Das isolationistische Kulturmodell war also die Folge der Übertragung von Herders Ideen auf
die Kunst. Indem man davon ausging, daß jede Nation über ein eigenes Potential für eine
kulturelle Leistung verfüge, die nur von ihr erbracht werden könne und für die Weltkultur
unverzichtbar sei, gelangte man fast automatisch zu der Schlußfolgerung, jedes Volk habe
diesen, seinen ganz spezifischen Beitrag zu leisten und dürfe nicht wiederholen, was andere
Nationen schon vor ihm geschaffen hatten. Für Herder waren vor allem die Gesänge,
Erzählungen und Tänze eines Volkes der Schlüssel zu seiner Kultur. Er sah darin das «Archiv
des Volkes», in dem sich sein Charakter, seine Empfindungen und seine Geschichte
widerspiegelten. Die Vordenker der tschechischen Nationalbewegung leiteten daraus die
Vorstellung her, daß die Erforschung der Volkskultur die Voraussetzung für die Entwicklung
der eigenen nationalen Identität sei und die Kunst einer Nation die für sie spezifischen
volkstümlichen Elemente zu verarbeiten habe.
Zu Beginn der sechziger Jahre war es die unumstößliche Meinung aller maßgeblichen
tschechischen Kulturpolitiker, daß sich die Entwicklung der nationalen Musik an den
Volksliedern orientieren müsse. Sie wurden darin unterstützt von den vielen mittelmäßigen
Tonsetzern und komponierenden Dilettanten, die das Aufblühen der tschechischen
Gesellschaft zutage förderte. Diese wollten die Nachahmung slavischer Volkslieder zum
Primat der tschechischen Kunstmusik erheben. Die Führer der Nationalbewegung waren
damit einverstanden, ging es ihnen doch nicht um die Förderung der Kunst an sich, sondern
um ein zusätzliches Propagandamittel. Durch die Symbiose mit der nationalen Politik
beherrschte die provinzielle Kunstauffassung, die sich an der Volksmusik orientierte, bereits
Anfang der sechziger Jahre derart die Kunstszene, daß jene Komponisten, die einen
internationalen Standard forderten, fast zwei Jahrzehnte benötigten, um ihre Vorstellungen
durchsetzen zu können.
Das hing nicht zuletzt damit zusammen, daß sich im Herbst des Jahres 1871 die Träume der
Tschechen von einer Wiederherstellung des Böhmischen Königreichs im letzten Moment
zerschlagen hatten und sich die föderalistischen Tendenzen seitdem wieder verstärktem
Druck aus Wien ausgesetzt sahen. In dieser schwierigen, von Enttäuschung und Kleinmut
geprägten Situation schraubte die tschechische Gesellschaft ihre kulturpolitischen Absichten
wieder stark zurück. Die enggefaßten und provinzialistischen Ziele, die in Konkurrenz zum
deutschen Kulturleben in Prag entwickelt worden waren, gewannen wieder an Attraktivität,
da sie leichter zu erreichen waren als das kulturelle Niveau der etablierten europäischen
Nationen.
Die starken Spannungen, die in diesen Jahren die tschechische Gesellschaft beherrschten,
entluden sich immer wieder auch in endlosen Wortgefechten über die Grundlagen einer
nationalen Opernproduktion. Die Auseinandersetzungen über den Charakter der
Nationalmusik, die zu Beginn der sechziger Jahre in den Salons und Kasinos geführt worden
waren, wurden nun von zwei kulturpolitischen Lagern in verschärfter Form über die Presse
ausgetragen, wodurch sie zur Angelegenheit der seit 1860 immer intensiver
kommunizierenden nationalen Öffentlichkeit wurden.
Erst als diese Debatte Mitte der siebziger Jahre in einer Diskussion über die
Gestaltungsprinzipien der tschechischen Kunst insgesamt aufging, flauten die
Richtungskämpfe im Musikbereich allmählich ab. Das lag daran, daß im Mittelpunkt dieser
Diskussion von Anfang an literarische Fragen gestanden hatten; allein die an Reibungsflächen
reiche Persönlichkeit und das engagierte Wirken Smetanas machten den Streit über das
tschechische Musikleben für vier Jahre zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses.
Smetanas Rücktritt vom Kapellmeisteramt und sein Fortgang aus Prag entzogen dieser ganz
auf ihn zugeschnittenen Kontroverse ihre Grundlage; eine derart beherrschende Stellung im
Kulturbetrieb der böhmischen Hauptstadt erreichte in den folgenden Jahren kein anderer
Musiker mehr.
Mit der gesundheitlich bedingten Aufgabe seiner Leitungstätigkeit an der Oper des
Interimstheaters am 31. Oktober 1874 - Smetana war binnen dreier Monate völlig ertaubt -
schien sein Karriere beendet zu sein. Doch es kam anders. Die plötzliche Krankheit, der
Verlust der hart erkämpften beruflichen und gesellschaftlichen Stellung sowie der von
materieller Not erzwungene Rückzug aufs Land machten Smetana zur tragischen Figur. Seine
Fähigkeit, trotzdem weiterzukomponieren, trug ihm bald die Anerkennung als Genie ein - der
Vergleich mit Beethoven drängte sich geradezu auf. Seine Freunde und Bewunderer nutzten
diese Ausgangsbasis für eine Kampagne, die Smetana an zentraler Stelle im nationalen
Bewußtsein verankern sollte. Sie konnten dabei auf den unbestreitbaren Aufschwung
verweisen, den das Prager Musikleben während seiner Kapellmeistertätigkeit genommen
hatte. Otakar Hostinsky verlieh ihm darüber hinaus die Aura eines Märtyrers, indem er einen
direkten Zusammenhang zwischen der von einem Nervenleiden ausgelösten Ertaubung und
den jahrelangen permanenten groben Attacken auf Smetana herstellte.
Smetana profitierte auch von der sich seit dem Tode Palackys im Jahre 1876 abzeichnenden
Versöhnung zwischen Jung- und Alttschechen. Deren 1873 offen ausgebrochener Streit hatte
sich nachteilig auf das kulturelle Leben der Tschechen in Prag ausgewirkt. Die Erfolge, die
seit 1879 aus der Beteiligung an der Regierungspolitik resultierten, riefen bei den Tschechen
ein Gefühl der nationalen Stärke hervor, das sich in symbolischer Form zu artikulieren suchte.
Dieser Wunsch, das gestiegene Selbstbewußtsein in herausragenden nationalen Leistungen zu
spiegeln, war eine wichtige Voraussetzung für Smetanas Aufstieg zum
«Nationalkomponisten».
Dieser Prozeß wurde von seinen in der Umelecka beseda konzentrierten Anhängern gesteuert.
Deren Musikabteilung veranstaltete zahlreiche Konzerte und Vortragsabende, die vorrangig
der Verbreitung von Smetanas Werken und Ideen dienten. Auch hier war Otakar Hostinsky,
der den Komponisten während des «Opernkampfes» gemeinsam mit Jan Neruda und Ludevit
Prochazka in den Zeitschriften Dalibor und Lumir verteidigt hatte, die treibende Kraft.
Hostinsky, der 1883 zum Professor für Ästhetik an die Karlsuniversität berufen wurde, hat
sich bis zu seinem Tod im Jahre 1910 immer wieder darum bemüht, der Person und dem
Werk Smetanas Geltung zu verschaffen. Wenn ihn dabei auch andere Freunde des
Komponisten unterstützt haben, so muß doch Hostinsky als der eigentliche Urheber des
Mythos von Smetana als dem «Begründer der tschechischen Nationalmusik» angesehen
werden. Er hat ihn zum Symbol für den musikalischen Fortschritt erhoben und unermüdlich
für dessen Kunstauffassung geworben, die er freilich auch mit seinen eigenen Ideen
anreicherte.
Die Weichen dafür, daß ihn seine Anhänger zum «Nationalkomponisten» stilisieren konnten,
hat Smetana mit seinem Spätwerk gestellt. Bis auf die letzte Oper Die Teufelswand fanden
alle seine Stücke, die zwischen 1875 und 1884 uraufgeführt wurden, beim Publikum
begeisterte Aufnahme. Dadurch stieg sein Ansehen als Komponist in der zweiten Hälfte der
siebziger Jahre bereits so sehr, daß die gesellschaftlichen Ehrungen immer mehr zunahmen;
Smetana wurde Ehrenbürger zahlreicher Gemeinden, und viele nationale Vereine erklärten
ihn zu ihrem Ehrenmitglied und 1880 feierte seine Geburtsstadt Leitomischl ihren berühmten
Sohn mit der Enthüllung einer Gedenktafel.
Die Erfolge der achtziger Jahre, insbesondere die Einweihung beider Nationaltheatergebäude
mit seiner Oper Libuse, brachten Smetana den endgültigen Durchbruch. Nach dem Triumph,
den er 1881 mit dieser nationalen Festoper hatte feiern können, sah er sich bereits als
«Nationalkomponist». Smetanas gestiegene Popularität zeigte sich auch an der Feier der
hundertsten Aufführung der Verkauften Braut am 5. Mai 1882, der Gründung der
Gesellschaft der Smetana-Verehrer im selben Jahr und der offiziellen Ernennung zum
Komponisten des Nationaltheaters 1883. Entscheidenden Anteil daran, daß Smetana bereits
zu Lebzeiten in die Rolle des «Nationalkomponisten» hineinwachsen konnte, hatte schließlich
der Zyklus Mein Vaterland, der als Gesamtstück erstmals am 5. November 1882 zur
From: "Tomas Pecina"
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Subject: Smetana
Date: Sat, 7 Nov 1998 17:33:18 +0100
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Aufführung gelangte.
Das nationale Pathos, das diese sechs sinfonischen Dichtungen, aber auch die Opern Die
Verkaufte Braut und Libuse tschechischen Zuhörern heute noch vermitteln, hat Smetana zu
einem Symbol werden lassen für das moderne tschechische Kunstschaffen. Mit diesen drei
Werken erfüllte er die beiden Hauptforderungen, die von der Nationalbewegung an die
Entwicklung der neuen Hochkultur gerichtet wurden: Sie standen auf einem hohen
künstlerischen Niveau, und brachten gleichzeitig im höchsten Maße nationale Inhalte zum
Ausdruck.
Die Verkaufte Braut vermittelte den nach ihren Wurzeln suchenden Prager Intellektuellen
eine romatische Verklärung des Lebens auf dem Lande, wo sich ihrer Ansicht nach die
tschechische Eigenart über die gesamte dreihundert Jahre dauernde Zeit der nationalen
«Finsternis» hinweg unverfälscht hatte erhalten können.
Mit Mein Vaterland brachte Smetana den Anspruch der Tschechen auf Böhmen, seine
Geschichte und seine Landschaften, durch die Musik für jedermann verständlich zur Sprache:
Das Klangbild Vysehrad beschreibt das Burgleben zur Zeit der mythischen Begründer des
Premyslidengeschlechts. Das zweite Tongedicht schildert den Lauf der Moldau durch
Böhmen von der Quelle bis zur Mündung. Sarka erzählt die Geschichte einer tschechische
Amazone, die in den Wäldern südlich der noch jungen Burg Vysehrad ihr Unwesen getrieben
haben soll. Aus Böhmens Hain und Flur ist eine Homage an die heimatliche Natur und
Landschaft. Tabor schildert den Untergang des Hussitenheeres in der Schlacht von Lipany,
das der Sage nach aber nicht vernichtet wurde, sondern sich in den Berg Blanik retten konnte,
wo es seitdem überdauert, um in der Stunde der höchsten Not unter Führung Wenzels des
Heiligen die Heimat zu retten; im Schlußsatz der sinfonischen Dichtung hört man diese
Streitmacht heranmarschieren.
Ausdrucksvollstes Manifest nationaler Zuversicht, das die tschechische Kunst hervorgebracht
hat, und Höhepunkt der gleichnamigen Festoper ist die Prophezeiung der Libuse:
Und weiter? Das verhüllt dem Aug' ein Nebelschleier
und vieles bringt er dem betrübten
Blicke,/düst're Geheimnisse - Verdammnis!
Doch was sich auch begeben mag,
das fühl' ich in der Seele tiefsten Tiefen:
Mein teures Tschechenvolk wird niemals untergeh'n,
der Hölle Schrecken wird es glorreich Sieger sein!
Smetana hat nicht nur im Rahmen der Nationalbewegung an führender Stelle das
tschechische Musikleben mitorganisiert, sondern mit seiner Musik auch auch zur
Entwicklung einer neuen, nationalen Gefühlslage beigetragen, die den Rahmen für die
Konsolidierung der tschechischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts gebildet hat.
Durch den Erfolg einiger seiner Werke im Ausland trug er außerdem maßgeblich zur
internationalen Anerkennung der Existenz einer tschechischen Nation bei. Ungeachtet der
Tatsache, daß Smetanas Rolle bei der «Begründung der tschechischen Musik» vorrangig von
seinem Streben nach beruflichem Erfolg und sozialer Absicherung geprägt war, wurde er von
der tschechischen Politik vereinnahmt und von seinen Anhängern zum nationalen Symbol
stilisiert.
Eine solche Symbiose von Politik und Kunst war nur möglich, weil sich in der Zeit zwischen
Oktoberdiplom und Staatsgründung die Massenphase der Nationalbewegung mit der
Hochphase der musikalischen Romantik deckte. Denn allein diese Art von Musik konnte das
nationale Pathos angemessen vermitteln.
Während des Ersten Weltkrieges mobilisierte die tschechische Nation all ihre Kräfte - auch
die der Kunst - für das Ziel der Eigenstaatlichkeit. Da die österreichischen Behörden andere
nationale Kundgebungen nicht zuließen, entwickelten sich Smetanas Kompositionen
aufgrund der mit ihr transportierbaren Inhalte zu einem zentralen Propagandamittel für die
tschechischen Bewegung. In diesen Jahren etablierte sich Smetana endgültig als
«Nationalkomponist», und seine Musik wurde ein fester Bestandteil des tschechischen
Nationalbewußtseins.
Last updated on March 8th, 1998.